Fünf Jahre offene Seemannssprechstunde im DUCKDALBEN
Von Halsschmerzen und Herzweh
Eine gemeinsame Erfolgsgeschichte von international seamen’s club und Hamburg Port Health Center
Erschöpft sinkt er in den Stuhl im Sprechzimmer: „24 hours no sleeping. Too much stress!“ Nicht einmal Zeit zum täglichen Blutdruckmessen hatte der russische Kapitän an Bord. 24 Stunden durchgearbeitet ohne Pause, auf der Brücke gestanden, von See die Elbe herauf navigiert in den Hamburger Hafen. Anschließend gab’s noch jede Menge Papierkram zu erledigen. Erst jetzt hat er ein wenig freie Zeit im international seamen’s club. Und er hat Glück, denn heute ist Montag, Gesundheitstag im DUCKDALBEN. Das Besondere: Die Beratung kostet nichts, ist anonym und absolut vertraulich.
Schwester Inge Rosin vom Hafenärztlichen Dienst mißt den Blutdruck des 58jährigen, schnackt ein bißchen mit ihm, woher? wohin? Sein Schiff fährt unter der Flagge von Antigua und Barbuda. In die Türkei geht die nächste Reise. Dann kann er nach Hause, sein Vertrag ist erfüllt. Er hat Urlaub und fliegt nach Wladiwostok zu Töchtern und Enkelkindern, endlich. Unter der Fußsohle tut etwas weh beim Auftreten, das guckt sich der Arzt gleich noch an. Dr. med. Martin Dirksen-Fischer ist Leiter des Hamburg Port Health Center (HPHC), das das medizinische Team stellt.
Seit fünf Jahren heißt es im international seamen’s club jeden Montag von 17 bis 22 Uhr „The doctor is in“. Mehr als 2.800 Seeleute haben den Gesundheitsservice mitten im Hamburger Hafen bisher genutzt. 10 bis 15 holen sich im Schnitt jeden Montag Rat, allen voran die Filipinos mit insgesamt 1742, die auch die stärkste Gruppe der Gäste im DUCKDALBEN stellen. Rang zweit mit 351 belegen Seeleute aus Indien, deutsche liegen mit 195 an dritter Stelle, auf Platz vier kommen chinesische Seefahrer mit 155. „Dieses Jahr waren sie allerdings sehr schwach vertreten“, hat Inge Rosin beobachtet. „Vielleicht laufen weniger Schiffe mit chinesischer Besatzung den Hamburger Hafen an, vielleicht haben sie keine Zeit, von Bord zu gehen.“
Hautprobleme plagen die Seeleute, stehen in der Statistik oben. Gefragt sind Tests und Beratung zum Thema Geschlechtskrankheiten. Ein Kästchen mit Kondomen zum Mitnehmen steht auf dem Beratungstisch. Mit Rückenschmerzen kommen viele in die Sprechstunde, weil der Beruf immer noch schwere körperliche Arbeit ist. Blutzuckertests sind stärker nachgefragt, um zu hohe Werte rechtzeitig zu erkennen und nicht an Diabetes zu erkranken. Die Ernährung an Bord ist oft ungesund, zu fett, reich an Kalorien und Kohlehydraten, es mangelt an Vitaminen wie in frischem Obst und Gemüse und vor allem an Bewegung. Unangefochten an der Spitze der Behandlungen liegt Blutdruckmessen. „Door opener“ nennt Inge Rosin dies, denn häufig ergibt sich aus den wenigen Minuten, die der Check eigentlich in Anspruch nimmt, ein Gespräch. Der „Türöffner“ wird zum Herzöffner und die Gesundheitsberatung auch zur Medizin für die Seele: Wenn der Arbeitsdruck an Bord immer höher wird, wenn man die Familie in den Philippinen, Indien, der Ukraine neun Monate oder länger nicht besucht hat, wenn bei einer Mannschaft von 23 Seeleuten an Bord elf verschiedene Herkunftsländer mit elf verschiedenen Kulturen und Sprachen auf engstem Raum Monat für Monat miteinander leben und arbeiten müssen, wenn der Vater sein Neugeborenes noch nie gesehen hat, außer vielleicht über skype, die Eltern in der Ferne alt und krank sind, die Freundin Schluß gemacht hat, weil man als Seefahrer zu selten zu Hause ist, wenn man nur deshalb zur See fährt, um eine große Familie zu ernähren und zu unterstützen, weil das Schulgeld für die Kinder gezahlt werden muß, weil es im Heimatland andere Arbeitsplätze nicht gibt. Im Jahr 2012 hätten mehr als zuvor über das fehlende social life an Bord gesprochen, fehlende Gemeinschaft, stattdessen Einsamkeit. „In ungefähr 80 Gesprächen“, schätzt Inge Rosin, „war dies Thema. Ein Seemann kam mit Kniebeschwerden, bald rückte er heraus, wie einsam er sich fühle: ‚Ich bin der einzige Holländer an Bord‘. Er war jung, fuhr gerade ein Jahr zur See. Er wollte einfach mal reden. Wir können uns den Alltag auf See gar nicht vorstellen.“ Deshalb haben im vergangenen Jahr wieder mehr als 34.000 Besucher aus 112 Ländern den international seamen‘s club angesteuert. Seit einem Jahr ist Dr. med. Martin Dirksen-Fischer Leiter des Hamburg Port Health Center der Hamburger Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz. Schon bei seinen ersten Routinekontrollen und Impfungen auf den Schiffen im Hamburger Hafen wies er eifrig auf den Gesundheitsservice am Montag hin: „Anfangs war ich überrascht bei meinen Besuchen an Bord: Die Seemannssprechstunde im DUCKDALBEN war bestens bekannt! Sie hat einen guten Namen bei den Seeleuten, sie haben Vertrauen." Paßgenau zugeschnitten auf die Bedingungen der Seefahrt ist dieses Angebot: Die Ratsuchenden müssen keinen Termin vereinbaren, sondern kommen einfach ins Sprechzimmer, wenn sie am Montag zwischen 17 und 22 Uhr von Bord können. Vom Schiff in den DUCKDALBEN gelangen sie ohnehin mit dem kostenfreien Shuttle Service der vier clubeigenen Kleinbusse. Die Hemmschwelle ist niedrig, nicht nur, weil die Seeleute aus aller Welt das gemütliche Haus im Hafen bereits kennen. Die Sprechstunde aufzusuchen ist unauffällig, kostet den Seemann nicht viel von seiner knappen Freizeit. „In wirtschaftlich schwierigen Zeiten höre ich oft als erstes die Frage: ‚Wer bekommt meine Daten?‘“, erzählt Inge Rosin, die von Anfang an dabei ist. „Niemand! versichere ich den Besuchern, nicht der Kapitän, nicht die company, nicht der Agent. Nichts geht weiter, niemand erfährt von Eurem Besuch bei uns! Eure Namen will ich gar nicht wissen.“ Längst hat sich in Seefahrerkreisen herumgesprochen, daß man dem Gesundheitsteam Vertrauen schenken kann. Denn Gesundsein und Gesundbleiben sind eng damit verknüpft, den Arbeitsplatz in der Schifffahrt zu behalten.
Gute Dienste leisten dabei die Flyer, die das Team entwickelt hat. Eines der Faltblätter gibt mit kleinen Zeichnungen Tipps, wie der Rücken entlastet werden kann. In „Sports on Board“ erfährt der Seemann, wie er mit einfachen täglichen Sportübungen sein Gewicht unter Kontrolle hält. Fotos von Schwarzbrot, Gemüse und Obst zeigen gesunde Lebensmittel, wenige Worte erläutern übersichtlich, was man einschränken oder vermeiden sollte. Bei Butter geht der Daumen runter, bei Schokolade, Zucker, süßen Getränken, gerade, wenn man unter Diabetes leidet oder dem vorbeugen will. Für den Koch als wichtigen Mann gibt es als Hilfe beim Zubereiten der Mahlzeiten eine grüne und eine rote Liste im Infoblatt „Diabetes on Board“.
„Wir haben handlich zusammengestellt, was machbar ist an Bord, beim Sport etwa mit ganz normalen Mitteln ohne große Geräte.“ Die kleinen Ratgeber gehen weg wie geschnitten Brot. Es reicht schon, wenn eine Broschüre aufs Schiff gelangt, sie wandert, vom oiler zum chief engineer, vom dritten Offizier zum Decksmann und weiter.
Maßgeschneidert ist das Angebot für die Seeleute und keine Konkurrenz zu niedergelassenen Ärzten oder Kliniken. Ganz im Gegenteil verdeutlicht Inge Rosin: “Viele Diagnosen können wir hier gar nicht stellen. Dann ist ein Besuch in einer Arztpraxis wichtig oder im Krankenhaus.“
Heute aber können die beiden allen „Patienten“ helfen: Der nächste Seemann klagt über gerötete Augen. Der Doktor leuchtet in die Augen des Filipinos. Ob er Schweißarbeiten mache, fragt Inge Rosin. „Nein“, lautet die Antwort, „aber ich habe viel Streß, ich muß stundenlang am Computer sitzen.“ Zweiter Offizier ist der 41jährige. Der Doc empfiehlt ihm, sich eine Computerbrille anzuschaffen, um die Augen zu schonen. Nebenbei bringt Inge Rosin den Besucher mit ein paar Fragen zu seinem Alltag ins Plaudern. Sein Vertrag geht über acht Monate, der vorherige dauerte sogar zehn. Verheiratet ist er nicht, hat aber eine Freundin. Doch sie verläßt die Philippinen, hat einen Job in den USA gefunden. Nein, er geht nicht mit. Er bleibt bei der Seefahrt. Seine Stimme klingt energisch: „Some day I want to be a master.“ Zum Kapitän will er aufsteigen, das ist sein Ziel. Das Strahlen im Gesicht von Inge Rosin signalisiert dem Seemann: Er und nur er zählt in diesen Minuten. Sein Anliegen, seine Beschwerden, seine Wünsche, seine Sorgen. Sie hat alle Zeit der Welt für ihn. Es ist zu spüren, wie er sich als Individuum, jenseits seines Ranges auf dem Schiff, wahrgenommen fühlt, wie gut ihm die persönliche Zuwendung tut, die er im Gespräch an diesem Ort zwischen Weltkarte, Schul-Skelett und Krankenliege erfährt.
Manche Krankheiten habe es vor zehn, zwanzig Jahren an Bord nicht gegeben, weil die Arbeit anders war, berichtet Dr. Dirksen-Fischer. Heute gebe es auf den Schiffen zum Beispiel Computerarbeitsplätze genau wie an Land. Anders als in einer Praxis an Land jedoch, wo der Patient anderntags noch einmal Nachfragen kann, müsse man in dieser speziellen Sprechstunde in kürzester Zeit die wichtigen Punkte knapp und deutlich vermitteln. Denn in wenigen Stunden sind Mensch und Schiff wieder auf See, und keineswegs in jedem Hafen gibt es diesen Gesundheitsservice.
„Wir sind einzigartig, weltweit! Niemand sonst bietet seit so langen Jahren dauerhaft zu einem festen Termin mit derart ausgedehnten Sprechzeiten einen solchen Dienst mitten im Hafen an.“ Die Freude über den großen Erfolg dieser Arbeit hört man Inge Rosin an. „Nachahmer“ in anderen Häfen würden sich Dr. Dirksen-Fischer und sein Team wünschen. In Rostock läuft ein Versuch für zwei Stunden in der Woche mit der dortigen Deutschen Seemannsmission. Mitarbeiter anderer Missionen sind aus Venedig und New York angereist, um die Sprechstunde im DUCKDALBEN im Hamburger Hafen kennenzulernen, sogar aus dem thailändischen Gesundheitsministerium kamen Besucher.
Eins ist für Dr. Dirksen-Fischer vom Hafenärztlichen Dienst klar: „Die Probleme in der Seefahrt werden nicht weniger werden. Deshalb ist unsere Zusammenarbeit mit dem DUCKDALBEN für die Gesundheit der Seeleute auch in Zukunft stark gefordert.“
Jetzt aber wartet schon der Nächste, mit Magendrücken. Seit Jahren schon leidet der Filipino immer mal wieder daran. Der Arzt empfiehlt ihm, besser fünf kleine Mahlzeiten täglich zu essen, statt nur dreimal am Tag große Portionen. Er gibt ihm ein Medikament, jeden Morgen um 8 Uhr soll er eine dieser Tabletten nehmen. Sein Schiff fährt unter der Flagge Panamas, sein Vertrag läuft über neun Monate, kann auf zwölf verlängert werden. Im Februar wären die neun Monate herum. Das sagt er zweimal. Im Club hat er gerade mit seiner kleinen Tochter telefoniert. Als messman fährt er, arbeitet in Küche, Messe, Vorratsräumen und steht dem Koch zur Seite. Der Doc schaut sich die Hände des 36jährigen an. Rau ist die Haut, rissig und rot. Reinigungsmittel strapazieren die Haut, nicht immer steht für das Geschirr in der Mannschaftsmesse eine Spülmaschine zur Verfügung. Inge Rosin verschwindet in den Tiefen des Medikamentenschrankes, reicht dem Seemann zwei kleine Tuben mit spezieller Hautcreme für Menschen, die im Beruf mit Lebensmitteln umgehen: Die Creme aus der grünen Tube soll er morgens auftragen, die aus der roten zur Nacht. Er bedankt sich mehrmals und ist erstaunt, daß er nichts zu bezahlen braucht.
Im Frühjahr 2014 erwartet das Gesundheitsteam den 3.000 Seemann in der Sprechstunde, der etwas für seine Fitness tun möchte. Vielleicht wird er danach überlegen, ob er im kleinen Shop des DUCKDALBEN doch nicht die Tüte mit den krossen Schweineschwarten kauft. Sondern besser zum Tischtennisschläger greift, eine Runde mit seinen Kollegen spielt oder draußen auf dem Kleinsportfeld beim Basketballmatch mitmacht, um den Winterspeck loszuwerden.