Liebe Weihnachtsgemeinde,
„Bethlehem“ heißt es, das Bild, das vor Ihnen liegt. Einige von Ihnen sehen es zum ersten Mal; andere haben es vielleicht schon einmal gesehen, zum Beispiel im Weihnachtsbrief des Seemannsheims. Aber egal, ob man es kennt oder nicht: es gibt darin einiges zu entdecken und zu sehen. – Oder auch nicht zu sehen. Es fehlt so ziemlich alles, was wir von anderen Weihnachtsbildern kennen: Stall. Hirten. Tiere. Der Stern. Selbst Josef, immerhin Vater des Kindes, um das es geht. Nichts von alledem auf diesem Bild, nur Maria und das Kind. Und wüssten wir nicht, dass das Bild „Bethlehem“ heißt – man könnte kaum erahnen, dass es hier um Weihnachten geht. Zumindest ungewöhnlich ist so etwas, und vielleicht auch etwas ärgerlich. Ärgerlich, weil es fast alles weglässt, woran wir uns so gewöhnt haben, was „einfach dazugehört“. „Bethlehem“ – nur ein halbes Weihnachten? Oder vielleicht doch: „Bethlehem“ – Weihnachten auf das reduziert, was das wirklich Wichtige daran ist?
Wir sehen da die Mutter. Ihr Kopf füllt fast das ganze Bild aus. Wie verzaubert blickt sie ihr Kind an, als könnte sie das Wunder des Lebens noch gar nicht fassen. Klein, fast zerbrechlich, aber ganz geborgen liegt das Kind, ihr Kind in ihren Armen. Eine größere Idylle kann man sich kaum vorstellen, die Farben zeigen es schon an: ein lichtes Grün, das mit dem Blau des Kopftuches verschmilzt, leuchtend die beiden Gesichter – Harmonie...
Da ist es ganz gut, dass der Hintergrund nicht zu sehen ist. Ein Stall ist nun einmal kein romantischer und gemütlicher Ort: Marode Balken halten das löchrige Dach. Es ist zugig, und auch nicht gerade sauber. Dreckig, unhygienisch ist es, auf dem nackten Boden liegt nur etwas Stroh, darin die Hinterlassenschaften der Tiere, die ich lieber nicht näher beschreiben möchte. Den Geruch kann man sich ausmalen... Das möchte man sich lieber nicht antun, da sind wir froh, wenn wir nur einen kleinen, harmonischen Ausschnitt serviert bekommen, wenn wir nicht das ganze Elend mit ansehen müssen. Gottes Sohn mitten im Dreck...?
Und die weihnachtliche Antwort muss lauten: Ja, genauso ist es, gerade im Dreck! Gerade dort, wo das Menschsein seine dunklen Seiten zeigt, gerade dort, wo Leid herrscht, Armut, gerade im Dreck der Welt, durch alle Zeiten hindurch – gerade dort wird Gott Mensch. Gerade dort zeigt sich das menschliche Antlitz Gottes, weil eine perfekte, heile Welt kein Weihnachten bräuchte. Eine gute Freundin von mir hat es einmal so ausgedrückt – und ich möchte Sie bitten, den harten Ausdruck zu entschuldigen, der eigentlich nicht auf eine Kanzel gehört, aber er trifft es wirklich – sie sagte einmal: „Wo du richtig tief drinsitzt in der Scheiße des Lebens: da wird Gott – direkt neben dir – Mensch.“ Und das bedeutet: Weil Jesus in einem Stall in Bethlehem zur Welt kam, und nicht in einem Palast, darum kann es auch keine Situation mehr geben, in der Gott uns fern ist. Elend, Sorgen, Ängste, ja, selbst der Tod sind keine Orte der Gottverlassenheit, wie groß und übermächtig sie auch zu sein scheinen – denn Weihnachten führt uns vor Augen: Gott ist nicht der ferne Beobachter, der sich alles von einem fernen Ort aus anschaut, sondern er kennt das Leben mit allen seinen menschlichen Höhen und Tiefen, weil er selbst im Stall Mensch wurde.
Das Bild „Bethlehem“ – will es uns das alles ersparen, das unschöne Drumherum? Zeigt es deshalb nur Maria und das Kind, weil es Weihnachten schönreden, quasi zensieren will, um die schöne Stimmung nicht kaputtzumachen? Ich glaube nein. Im Gegenteil – es zeigt wie in einer Momentaufnahme, wie es wirklich sein sollte. Mitten im Elend des Stalles zeigt sich, wie es in unserer Welt eigentlich aussehen sollte. Da, wo niemand es erwartet, zeigt sich auf einmal Güte – im Blick der Mutter, Hoffnung – in einem kleinen Kind, Vertrauen – trotz einer ungewissen Zukunft, Liebe – im Kommen Gottes. Mitten in einer kaputten Welt (denn damals gab es genauso viele Probleme wie heute, und die Menschen hatten ähnliche Sorgen), mitten darin wird die Hoffnung wahr, zeigt sich – in diesem Kind Jesus ganz greifbar – die feste Zusage Gottes: „Ich will, dass Menschen als Menschen leben können, ich will das Leben und nicht den Tod, ich will, dass nicht nur die himmlischen, sondern auch die irdischen Heerscharen das „Friede auf Erden“ singen und endlich Frieden herrscht. Und wie schwach die Zeichen der Hoffnung auch sind – ich bin als Mensch mitten unter euch, ihr seid nicht allein.“ Das ist es, was dieses Bild „Bethlehem“ zeigt: Die Hoffnung hat ein menschliches Gesicht.
Der Maler, Emil Wachter, hat zu diesem Bild einmal gesagt: es ist nur zum Schauen. Nicht zum klugen Interpretieren mit allem Kunstverstand, nicht, um Stellung zu nehmen. Einfach nur schauen soll man, fühlen, betrachten. So etwas zu sagen, ist das gute Recht eines jeden Künstlers. Aber hier möchte ich ihm einmal widersprechen, über ihn hinausgehen: Nicht nur schauen sollen wir, nicht nur einen Moment an der Krippe stehen bleiben, die Stimmung genießen und dann zurückkehren, als wäre nichts geschehen. Weihnachten ist nicht nur zum Schauen da – Weihnachten ist zum Mitnehmen. Auch die Hirten in der Weihnachtsgeschichte gehen nicht unverändert – nach ihrem Bethlehem sind sie nicht mehr die Alten, sondern nehmen etwas vom Licht der Weihnacht mit, was ihr Leben, ihren Alltag, was sie selbst verändert.
Vor ein paar Jahren bekam ich eine Weihnachtskarte, auf der stand: „Mach’s wie Gott: werde Mensch!“ Dass wir alle etwas von dieser Weihnachtshoffnung mit in unseren Alltag, in unsere Familien mitnehmen, nach hause, oder wohin auch immer das nächste Jahr uns bringt, das wünsche ich uns. Denn Weihnachten kann es immer werden, das weihnachtliche Bethlehem findet überall seinen Ort – wo Menschen Mensch werden, für sich selbst und für andere, wo Menschen Menschen werden, weil Gott Mensch wird. Ich wünsche uns allen ein gesegnetes Weihnachtsfest. Amen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus – Amen.
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